Das unterschätzte Jahrzehnt: Chorgesang in Pop- und Rockmusik in den 90er Jahre (Part 2)

Autor: Philipp

Im Blog vom 14.4. "Chorgesang in Pop- und Rockmusik: Wie Harmonien die Charts erobern" bin ich auf das Thema Chor und Charts in den Jahren 1960 bis 1989 eingegangen. Ich habe Euch meine sehr individuelle Top 10 präsentiert. All diese Songs wären nicht so grossartig ohne ihre Chor-Elemente. Heute möchte ich – wie angedroht – mit den 90er Jahren weiter machen… Aber warum diesmal nur ein Jahrzehnt?

Als Kind der späten 70er Jahren bin ich in den 90er Jahren musikalischen in meine Pubertät gekommen und habe meinen eignen Geschmack entwickelt… Vielleicht waren die 90er meine musikalisch intensivste Zeit.

Ein Grund mag darin liegen, dass ich damals neben Chor und eigener Band musikalisch hyperaktiv war - der wohl zutreffendere Grund ist aber: das Jahrzehnt vor dem Millennium war abwechslungsreich, frech und innovativ wie fast kein anderes. Man denke nur daran: neben dem klassischen Rock und Pop ist der Hip-Hop aufgekommen – genauso wie die Neo-Punk Bewegung, Grunge oder der Brit-Pop. Techno wurde richtig gross und konkurrierte sich schon bald mit der Euro-Dance Bewegung. World-Musik wurde richtig salonfähig… tja - und dann gab es da noch ein ganz besonderes Phänomen: die Boy- bzw. Girl-Groups.

Auch wenn ich heute nicht mehr alles gut finde, was ich damals als "das Beste" empfand, ist es für mich noch immer eines der grossartigsten Jahrzehnte der Musikgeschichte – obwohl das viele in Abrede stellen… Aber genug der langen Worte: hier ein paar tolle Songs aus dieser Zeit, welche ohne Chorelemente nur halb so gut gewesen wären…


Es begann wie ein Paukenschlag…

"God Gave Rock 'N' Roll to You II" ist eine kraftvolle Rock-Hymne der legendären Band KISS. Der Song, welcher ursprünglich von der britischen Band Argent geschrieben wurde, erhielt durch KISS im Jahr 1991 eine Neuinterpretation und hatte seinen grossen Auftritt im Film "Bill & Ted's Bogus Journey".

Der Song feiert die bedingungslose Liebe zur Rockmusik und die Energie bzw. Freude, die diese ausdrückt. Mit seiner mitreissenden Melodie und den feinen Lyrics spricht Gene Simmons und Paul Stanley jedem Rock-Fan aus dem Herzen. Der Text vermittelt die Botschaft, dass Musik –speziell Rock 'n' Roll – ein Geschenk ist, das Menschen verbindet und uns auch in harten Zeiten Hoffnung gibt.

Einer der wichtigste Aspekt des Songs ist für mich der Einsatz des Chores. Während des gesamten Liedes wechseln sich Solo-Stimmen und Chorgesang ab und geben dem Song eine Tiefe und Vielschichtigkeit. Der Chor tritt besonders im Refrain hervor und sorgt hier für einen harmonischen und kraftvollen Klang. Die methodische Verwendung des Chors verstärkt für mich die mitreissende Wirkung des Songs und betont die Gemeinschaft, die durch die Liebe zur (Rock-) Musik entsteht.

"God Gave Rock 'N' Roll to You II" haben wir übrigens in meinem damaligen Chor (Ten Sing Stäfa) in unserem Programm von 1994 gesungen… und wisst ihr was: den sollten wir eines Tages auch mal in eins unserer Programme aufnehmen!

"Under the Bridge" ist einer der bekanntesten Songs der Red Hot Chili Peppers und stammt aus ihrem Album "Blood Sugar Sex Magik" von 1991. Der Song zeigt eine sanftere Seite der sonst eher funkigen und energetischen Band und hat sich zu einem ihrer signifikantesten Hits entwickelt.

Obwohl immer noch stark von Funk und Rock geprägt, nimmt "Under the Bridge" eine melancholischere Tonlage an. Der Song enthält nachdenkliche, emotional geladene Texte, die auf persönlichen Erfahrungen des Leadsängers Anthony Kiedis basieren. Sie erzählen von seinem Kampf gegen die Drogenabhängigkeit und seine Gefühle der Einsamkeit und Isolation zu jener Zeit.

Die Bandmitglieder begleiten Kiedis mit diskreten und doch wirkungsvollen musikalischen Elementen, darunter John Frusciantes ikonisches Gitarrenspiel und Fleas warmes Bassfundament. Der Song baut sich allmählich auf, von sanften Gitarrenklängen und einfühlsamen Vocals zu einem energischen Ende, das Kiedis' innere Zerrissenheit hörbar macht.

Ein besonders bemerkenswertes Element ist der Chor der um 3:12 des Stückes einsetzt. Der einschmeichelnde und dennoch kraftvolle Harmoniegesang, der auf Kiedis' Lead-Vocals antwortet, erzeugt einen starken emotionalen Kontrast, der mich als Zuhörer tief berührt. Der Chor verstärkt den emotionalen Gehalt des Songs und ergänzt Kiedis' einzigartige Stimme, indem er eine weitere stimmliche Schicht hinzufügt, die den tiefgründigen, emotionalen Texten Gewicht verleiht.

Wer nun meint, dass ich nur rockige Dinge hörte, muss ich an dieser Stelle überraschen. "Crucified" ist ein Song der schwedischen Popgruppe The Army of Lovers aus dem Jahr 1991. Obwohl er absoluter Mainstream war, mag ich den Song bis heute. Er kombiniert eingängige Pop-Klänge mit einer starken Botschaft. Er handelt von einer Person, die sich von der Gesellschaft missverstanden und abgelehnt fühlt. Sie vergleicht ihr Leiden mit der Kreuzigung Jesu Christi und drückt ihre innere Stärke und ihren Überlebenswillen aus.

Dominant in "Crucified" ist ein Chor, der dem Song eine zusätzliche Dimension verleiht. Die harmonischen und vereinten Stimmen des Chors verschmelzen mit der markanten Stimme des Leadsängers und erzeugen so einen kraftvollen und stimmungsvollen Klang. Sie schaffen eine Atmosphäre der Unterstützung und Gemeinschaft, die die Botschaft von Akzeptanz und Stärke des Songs unterstreicht.

Jeder wollte wie die Spice Girls sein…

Boy- und Girlgroups spielten ab Mitte der 90er Jahre eine entscheidende Rolle in der Evolution der Popmusik. Diese Formationen, die in der Regel aus drei bis fünf Mitgliedern bestehen, waren für ihren harmonischen Gesang und ihre synchronisierten Choreografien bekannt. Aber was diese Gruppen besonders prägnant und unvergesslich machte, war oft ihr einzigartiger Einsatz von chorartigem Gesang.

In den meisten Boy- und Girlgroups hatte jedes Mitglied eine spezifische Rolle, oft unterteilt in Lead- und Background-Sänger. Diese Rollen waren meist flexibel und konnten je nach Song oder Performance variieren. Der Chorgesang war dabei ein wesentlicher Aspekt, der den Klang der Gruppe

definiert. Durch geschickten Einsatz von Harmonien und Rhythmen erzeugten sie einen vollen und ausgewogenen Klang.

Take That, die Spice Girls, New Kids on the Block, die Backstreet Boys, Destiny's Child oder natürlich mein Favorit All Saints sind nur einige Beispiele für erfolgreiche Boy- und Girlgroups der 90er. Sie alle haben den Chorgesang gekonnt eingesetzt, um einen unverwechselbaren Stil zu erzeugen.

Die Nutzung des Chorgesangs in Boy- und Girl Groups hat aus meiner Sicht deutlich zur Vielfalt und zum Reichtum der Popmusik beigetragen. Das Phänomen, das aktuell ein Revival zu haben hat, war für mich ein Treiber, komplexe Harmonien und Strukturen in den Mainstream zu bringen und die Fähigkeiten und Möglichkeiten des vokalen Zusammenspiels analog den grossen Beat-Bands der 60er wieder stärker hervorzuheben.

Wenn ich Euch nun ein paar Titel nennen müsste, wären das sicher "Never Ever" von All Saints aus dem Jahr 1997, "Back for good" von Take That (1995) und "Wannabe" von den Spice Girls aus dem Jahr 1996

Very Britisch…

Fast zur gleichen Zeit gab es auch das Phänomen Brit Pop. Obwohl damals wenige Bands den Chor als Stilmittel verwendet haben, komme ich nicht drum herum einen hier dennoch zu erwähnen:

"Don't Look Back in Anger" ist ein zeitloser Hit der britischen Rockband Oasis und knüpft direkt an die grosse britische Musiktradition der Beatles an. Der Song ist auf ihrem enorm erfolgreichen Album "(What's the Story) Morning Glory?" (1996) zu finden.

Die Leadstimme übernimmt unüblicherweise Noel Gallagher (anstelle seines Bruders Liam). Obwohl der Chorgesang für Oasis nicht üblich war, zeigt "Don't Look Back in Anger" eindrucksvoll, wie gut sie auch dieses Element nutzen konnten. Damit schafften sie es aus meiner Sicht, ihre Musik noch ausdrucksstärker zu gestalten als sie es ohnehin schon war. Der gemeinsame Gesang passt perfekt zur Botschaft des Liedes: Blick nicht in Wut zurück, sondern schau optimistisch in die Zukunft. "Don't Look Back in Anger" steht für mich als perfekter Song zum Abschluss eines Abends mit Freunden (grad kurz bevor der Kopf dann zu schmerzen beginnt…)


Im Herzen noch immer ein Punk…

Als ich 1992 ins Gymnasium kam, wurde ich mit etwas total Neuem konfrontiert: dem amerikanischen Neo-Punk. Die Scheibe "Against the Grain" von Bad Religion war für mich wie eine Offenbarung. Doch Punk und Chor – geht das? "Avenues & Alleyways" Band Rancid zeigte 1995, dass das nicht nur geht, sondern sogar eine richtig gute Symbiose ist.

Das Lied zeichnet sich durch seine ungefilterte Energie und Lebendigkeit aus, die durch Tim Armstrongs raue, unverwechselbaren Gesangsstil und Lars Frederiksen unterstützenden Vokalen unterstrichen wird. Der Song ruft Bilder von Strassenkämpfen, einsamen Nächten und der unverrückbaren Standhaftigkeit inmitten von Schwierigkeiten hervor. Für mich ist aber das bemerkenswerte Merkmal in "Avenues & Alleyways" der Einsatz eines Chores. Dieser tritt besonders deutlich während des Refrains hervor, in dem die Bandmitglieder und zusätzliche Stimmen gemeinsam singen. Diese kollektive Vokalpräsenz unterstreicht die gemeinschaftlichen Themen des Songs und gibt dem Hörer ein Gefühl der Einheit und Loyalität. Der Chorgesang fügt dem Song eine

zusätzliche Schicht von Intensität und Leidenschaft hinzu, die die rohe Energie und die emotional geladenen Texte des Songs verstärkt.

Und wenn wir schon beim Punk sind, dürfen die Toten Hosen mit "Wünsch Dir was" aus dem Jahr 1993 nicht fehlen. Der Kinderchor zu Beginn des Songs ist legendär und haben die Punk-Rocker aus Düsseldorf an die Spitze der Charts katapultiert.


Zuhause in der Welt…

"Sevilla Tiene un Color Especial" ist ein Song des spanischen Duo Los del Río aus dem Jahr 1993. Er zeigt Liebe der Band zu ihrer Heimatstadt Sevilla. Weltweit bekannt geworden sind Los del Río durch ihren Megahit "Macarena", doch "Sevilla Tiene un Color Especial" geniesst vor allem in Südspanien eine grosse Beliebtheit. Musikalisch ist der Song geprägt von einer Mischung aus traditionellen spanischen Klängen und modernen Pop-Elementen und spiegelt so den Charakter der Stadt wider: traditionell und doch stets in der Moderne verankert. "Sevilla Tiene un Color Especial" ist mehr als nur ein Lied: Es ist eine Hymne auf die Stadt Sevilla, getragen durch die Einigkeit und Harmonie des Chores im Refrain.

Für mich steht der Song für eine Vielzahl von guten Stücken aus dem Genre "World Music". Viele Stücke (man nehme nur die Werke von Ry Cooder – z.B. Buena Vista Social Club – oder der Gipsy Kings) weisen viele Elemente harmonischen Gesangs aus. Die meisten haben für mich aber zu wenig den Charakter eines Chores – ganz im Gegensatz zum Song von Los del Rio.

Fazit: Wie ihr sehen könnt, hatten die 90er Jahre viele grossartige Songs, welche erste dank ihren Chor-Elementen zu richtigen Hymnen wurden. Ich bin mir sicher, dass wir sogar ein volles Programm mit Chorliedern aus dem Jahrzehnt vor Millennium füllen könnten! Welche Lieder haben Euch geprägt? Schick mir Deinen Kommentar.