Chorgesang in Pop- und Rockmusik: Wie Harmonien die Charts erobern – Part 1

Autor: Philipp

Wie im letzten Blog (Back to the future – Chorgesang durch die Jahrhunderte: Von antiken Hymnen und rituellen Gesängen bis hin zu digitalen Chorproben) ausgeführt, ist die Tradition des gemeinsamen Singens schon fast so alt wie die Menschheit. Das gemeinsame Musizieren bedient ein Ur-Bedürfnis. Die grosse Popularität von Chören wurde von Kirche und weltlichen Institutionen bis zur Industrialisierung sogar oft bewusst zum Fördern politischer, religiöser oder kriegerischer Einheit genutzt. Durch das immer stärkere Infragestellen von Obrigkeiten nach den beiden grossen Kriegen, nahm dies jedoch stark ab. Trotzdem blieb der Chorgesang oder das Verwenden von Chorelementen in der Pop- & Rockmusik ein wichtiges und beliebtes Stilmittel. Heute will ich mit Euch gerne etwas genauer betrachten, welche berühmten Stücke ohne Chor-Gesang nicht die gleichen wären und vermutlich keinen so grossen Reiz ausüben würden, wie sie es heute noch tun… Und: ob die Songs wirklich nur Songs sind – oder doch an ein Gemeinschaftsgefühl appellieren. Gerne stelle ich Euch in einem ersten Teil meine Top 10 der Lieder mit Chor-Elementen oder von Chören aus den Jahren 1960 bis 1989 vor. Aber Achtung: die Liste ist in höchstem Mass subjektiv, individuell und würde morgen vermutlich schon wieder ganz anders aussehen…

Vielleicht muss ich - bevor ich beginne - noch auf einen inneren Konflikt eingehen: Vor der Erstellung meiner Liste stellte sich sehr schnell die Frage, "was ist eigentlich ein Chor? Und wo ist die Grenze zu einer Band mit "nur" verschiedenen Vocals?". Zum Glück sind wir in Zeiten der Digitalisierung und ich bat ChatGPT, mir eine trennscharfe Definition zu geben. Seht, was mir die Maschine antwortete: "Ein Chor ist eine Gruppe von Sängern, welche gemeinsam und in Harmonie singen. Sie können in unterschiedlichen Musikgenres und Kontexten auftreten und sind häufig in verschiedene Stimmlagen unterteilt. Die Leitung übernimmt in der Regel ein Chorleiter."

Gar nicht so einfach: nach dieser Definition wären ja ABBA auch ein Chor… daher habe ich nochmals kurz nachgefragt und folgende Antwort bekommen: "Obwohl ABBA harmonischen Gesang nutzte, entsprachen sie eher einer Band als einem Chor. Jedes Mitglied hatte oft individuelle Melodien und Harmonien, im Gegensatz zu Chormitgliedern, die in der Regel dasselbe singen."

Damit war dann nun auch nichts mehr mit den Beatles (einer meiner absoluten All-time Favorits)… oder doch nicht…?

Die 60er und 70er Jahre – ein Eldorado für den Chor

Zugegeben: mit Jahrgang 1977 habe ich keine eigenen Erinnerungen an die Musik dieser beiden Jahrzehnte. Dennoch hatte ich viele Berührungspunkte, da diese in meinem Elternhaus gespielt wurden oder ich ihnen später begegnet bin. Wenn ich nur an die ganze Soul-Geschichten aus den Häusern Motown oder Stax denke, kommen mir unzählige grosse Künstler in den Sinn, die mit Chorelementen gearbeitet haben. Otis Reding, Wilson Picket oder die Four Tops sind nur 3 von schier unendlich vielen. Stellvertretend für diese grossartige Zeit möchte ich auf folgende Songs näher eingehen:

"Aquarius/Let the sunshine in" ist ein Medley aus der Broadway-Show "Hair" von 1967, weltweit populär gemacht durch die Interpretation der 5th Dimension im Jahr 1969. Geprägt durch harmonischen Chorgesang und Protestsong-Elemente, fusioniert das Lied psychedelischen Pop mit Gospel und R&B. Mit dem Slogan "Let the sunshine in" appelliert es an Hoffnung und Liebe. Es symbolisiert das Zeitalter des Wassermanns - eine Ära von Frieden und Einheit, die von der Hippie-Bewegung prophezeit wurde. Ihr einzigartiger Sound und ihre inspirierenden Texte machen sie zum unsterblichen Botschafter der 60er Jahre Kultur. Dieses Lied ist der erste Song, den ich je in einem Chor gesungen habe und muss daher zwingend auf diese Liste.

"Hey Jude" ist für mich DER ikonische Song von den Beatles, geschrieben von Paul McCartney im Jahr 1968. Ursprünglich komponiert, um John Lennons Sohn Julian während der Scheidung seiner Eltern zu trösten, wurde das Lied zu einer weltweiten Hymne der Ermutigung und des Durchhaltevermögens. Der siebenminütige Track, der mit einem simplen Liedanfang beginnt und in einem totalen Chorausbruch endet, lädt die Hörer dazu ein, trotz Rückschlägen voranzuschreiten und Hoffnung zu bewahren. "Hey Jude" bleibt ein musikalisches Meisterwerk, das die Kraft menschlicher Widerstandsfähigkeit und Solidarität verkörpert. Wie eingangs gesagt: Eine Top-Liste ohne Beatles geht für mich persönlich wirklich nicht.

"Give Peace a Chance" ist ein revolutionärer Song von John Lennon, der seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1969 als Hymne für Friedensbewegungen weltweit diente. Er wurde während einer Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg aufgenommen und vereinte Hunderte von Menschen, die gemeinsam den berühmten Refrain sangen. Mit einer einfachen, aber kraftvollen Botschaft fordert Lennon die Zuhörer dazu auf, Gewalt abzulehnen und dem Frieden eine Chance zu geben. Zentral in dem Song ist – ganz im Sinne von Mahatma Ghandi – dass Worte mächtiger sein können als Waffen. Mit dem Lied schafft Lennon eine Atmosphäre der Hoffnung und Einigkeit und liefert eine zeitlose Erinnerung an die Macht des Friedens. Etwas, dass wir gerade in den heutigen Zeiten gut gebrauchen können!

"Die Herren dieser Welt" von Hildegard Knef ist ein kritisches Lied von 1970, das die Kräfte von Macht und Prestige hinterfragt. Als grosser Verehrer DER Knef, könnte ich viele Songs aufzählen – auch wenn eigentlich keiner als klassischer Chor-Song aufgelistet sein dürfte. In diesem Stück gefällt mir aber besonders gut, dass der Chor Hildegards einzigartige Stimme überhaupt erst zum Klingen bringt. Er spielt dabei eine entscheidende Rolle, indem er als Echo zu Knefs Hauptstimme dient und wichtige Textpartien betont. So wird die Botschaft des Liedes hervorgehoben und das melodische Gefüge bereichert, wodurch eine Atmosphäre von Solidarität und gemeinsamer Forderung geschaffen wird. Dieser kraftvolle und tiefgreifende Song bleibt für mich immer ein nachhaltiges Stück Musikkultur und könnte mit seiner Message als ersten "Punk-Song" (eine Stilrichtung, die mich später sehr in den Bann gezogen hat) meines Lebens bezeichnet werden.

"Nobody Knows" ist ein geistliches Lied, das von Pastor T.L. Barrett and The Youth for Christ Choir im Jahr 1971 geschrieben und veröffentlicht wurde. Es ist ein ausdrucksstarkes Zeugnis des christlichen Glaubens, dass trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge im Leben es eine höhere Macht gibt, die uns hält und uns durch die dunkelsten Zeiten führt. Obwohl mir persönlich der Text nicht so nahesteht, gefällt mir das Stück musikalisch unheimlich gut – und steht für alle grossartigen

Künstler der amerikanischen 60er und 70er Jahre aus der Ecke Motow und Stax. Ohne die "strenge" Definition meines digitalen Kollegen zu Beginn, wäre hier aber sicher Wilson Pickett mit "For Better or Wores" gestanden.

"Mama Loo" ist ein von John Les Humphries komponierter Song, berühmt interpretiert von der Les Humphries Singers-Band im Jahr 1973. Ich weiss nicht, wie oft meine Mutter dieses Stück zum Bügeln gehört hat. Der Song, der Global Pop mit Gospel-Elementen verschmilzt, ist bekannt für seinen einprägsamen Refrain und mehrstimmigen Gesang, der die Vielfalt der Gruppe unterstreicht. Die eingängige Melodie und der erhebende, gemeinschaftliche Gesangsstil der Gruppe machen "Mama Loo" zu einem Klassiker des Pops. Die Les Humphries Singers sind sicher einer bekanntesten Chöre, die mit diversen Songs die Hitparaden stürmten.

Die 80er Jahre – das heimliche "Chor-Jahrzehnt"…

Obwohl viele die 80er mit Disco, dem Aufkommen der Neuen Deutschen Welle und Metal, mit Wave und schrillen Synthesizer-Pop-Ikonen in Verbindung bringen, gibt es unzählige Songs, in denen Künstler tragende Chor-Elemente eingebaut haben. Zudem schafften es viele sogenannte "Super-Groups" mit Songs für caritative Zwecke in die Charts (der erste "Do They Know It’s Christmas?" von BandAid, bildete den Startpunkt dieses Phänomens). Auch schafften es viele A-cappella-Chöre in die Charts. Stellvertretend möchte ich Euch folgende 4 Stücke ans Herzen legen:

"Only You" von den Flying Pickets ist ein eindrückliches A-cappella-Cover des Originals von Yazoo, das 1983 die Britischen Charts eroberte. Der Song ist eine meiner ersten Erinnerung an den damals neu gegründeten Sender DRS3 (heute SRF3). Mit seiner einzigartigen Interpretation verwandelten die Flying Picketts eine bereits emotionale Synthie-Pop-Ballade in ein ausdrucksstarkes Vokal-Spektakel. Die unverwechselbare Melodie, die nur von der menschlichen Stimme erzeugt wird, schafft in mir ein intensives Gefühl der Sehnsucht und Romantik, die mit jedem harmonischen Akkord stärker wird. Der Refrain "All I needed was the love you gave" dient dabei als Bekenntnis zur stärkenden Kraft der Liebe. "Only You" bleibt für mich bis heute ein geistreiches Musikstück, das die Rohheit menschlicher Emotionen und die Verbundenheit zwischen Menschen auf bewegende Weise hervorhebt.

"We Are the World" - wer kennt das bewegende Lied, das 1985 von Michael Jackson und Lionel Richie geschrieben und schnell zu einem globalen Wohltätigkeitsphänomen wurde, nicht?. Gesungen von dem Supergruppen-Projekt USA for Africa, diente es dazu, das Bewusstsein für die verheerende Hungersnot in Äthiopien zu schärfen und Geld für Hilfsaktionen zu sammeln. Das Lied ruft zu Einheit, Mitgefühl und Menschlichkeit auf und übermittelt die starke Botschaft, dass wir zusammenkommen und handeln müssen, um Veränderungen herbeizuführen. Der wiederholte Refrain "We are the world, we are the children" wird zu einem kollektiven Aufruf, unsere Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen zu anerkennen. Es ist ein Lied voller Hoffnung und Solidarität, das bis heute eine mächtige Erinnerung an die Kraft gemeinsamen Handelns ist. Für alle unter Euch, welche über ein Netflix-Abo verfügen: in der Dokumentation "The Greatest Night in Pop" wird die Entstehung dieser Hymne sehr schön und liebevoll gezeigt. Absolut empfehlenswert.

"Caravan of Love" ist ein inspirierendes und herzerwärmendes Lied, ursprünglich von "Isley-Jasper-Isley", dem Nebenprojekt der Isley Brothers, aus dem Jahr 1985. Die britische A-cappella-Band "The Housemartins" machten es 1986 weltbekannt. Die kraftvolle Botschaft des Liedes ist ein Appell an die Menschlichkeit, Einheit und Brüderlichkeit, und ruft dazu auf, Liebe und Mitgefühl zu verbreiten. Im Refrain heißt es "Join the caravan of love", was zu einem gemeinsamen Marsch für Liebe und Akzeptanz einlädt. Mit seiner soulig-gospeligen Melodie und dem harmonischen Chorgesang erzeugt "Caravan of Love" eine Atmosphäre der Hoffnung und Verbundenheit und hinterlässt einen zeitlosen Eindruck für ein Miteinander in Frieden.

"Beds Are Burning" ist ein eindringlicher Song der australischen Rockband Midnight Oil, der 1987 veröffentlicht wurde. Für mich ist er weit mehr als nur ein Lied: er ist eine politische Aussage und ein Aufruf zum Handeln. Das Lied fordert Gerechtigkeit und Landrechte für die Ureinwohner Australiens und stellt unmissverständlich die Frage, wie wir schlafen können, während "unsere Betten brennen". Als Ausdruck von Solidarität und Protest gegen Ungerechtigkeiten verleiht der prägnante Chorgesang dieses Liedes seiner Botschaft besondere Kraft. Die Harmonien des Chorus dienen als kraftvoller Paukenschlag, der seine Zuhörer zwingt, hinzuhören und sich mit der Botschaft auseinanderzusetzen. Ein Meisterwerk musikalischen Aktivismus! Und: der Song war das erste Solo für mich in einem Chor – damals hatte ich gerade mal ein Drittel meiner heutigen Lebensjahre auf dem Buckel…

Die vielen Beispiele haben mir gezeigt, dass in vielen Fällen nicht mehr die Kirche oder ein Staat Treiber von (Chor-) Songs sind. Dennoch appellierten viele der oben genannten Stücke der 60er, 70er und 80er Jahre an ein Gemeinschaftsgefühl und wollen uns für etwas sensibilisieren. Die Chartplatzierungen der einzelnen Lieder sagt, mir, dass dies in den meisten Fällen auch gelungen ist. Ich bin schon gespannt, ob dies in den 90er Jahren bis heute auch so ist – davon aber mehr in einem anderen Blog. Nun wünsche ich Euch aber erstmal viel Spass beim Hören der Songs!

PS: Alle, die mir die eigen Top-10 aus den 60er bis 90er, allgemeine Kommentare oder Anregungen für den zweiten Teil (90er Jahre bis heute) hinterlassen wollen, können gerne das Formular ausfüllen.